„Wer mich verstehen will, muss sehen, wo ich aufgewachsen bin“
Persönlicher Fußball-Blog von Christian Falk - Fußball-Chef der BILD-Gruppe. Insider-Berichterstattung über den FC Bayern München und der DFB Nationalmannschaft.
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„Wer mich verstehen will, muss sehen, wo ich aufgewachsen bin“

„Wer mich verstehen will, muss sehen, wo ich aufgewachsen bin“

Der FC Bayern ist es nie müde zu betonen, dass es in diesem Klub keine Ausstiegsklauseln für Spieler gibt. Nur für einen Profi wurde ein einziges Mal eine Ausnahme gemacht: für Franck Ribéry. Der Franzose verriet es mir bei einem Termin, bei dem ich ihn an der Säbener Straße zum Interview traf. Franck erklärte sogar die Staffelung der Höhe der fälligen Ablösesumme, die zum Ende der Laufzeit immer niedriger wurde. Für ihn war das kein großes Ding, für den Klub schon. Der FC Bayern untersagte die Veröffentlichung der Zitate. Aufgrund der Autorisierung durch den Klub war das zum Leidwesen des Journalisten möglich.

 

Das Beispiel zeigt, welche Ausnahmestellung der Franzose im Klub hat.

 

Ob beim Skandal mit einer minderjährigen Prostituierten oder der Watschen für einen französischen TV-Reporter – immer stellte sich der FC Bayern schützend vor Ribéry (derzeit mit Muskelfaserriss verletzt). So nun auch in seinem ausfallenden Twitter Post („F…t eure Mütter, eure Großmütter“) nach der Goldsteak-Affäre. Das Verhalten des Bayern-Stars ist nicht zu entschuldigen oder nachzuvollziehen. Umso mehr musste ich in diesen Tagen an die Worte denken, die mir Franck einmal sagte: „Wer mich verstehen will, muss sehen, wo ich aufgewachsen bin.“

Ich wollte Ribéry verstehen und reiste deshalb anschließend in seinem Heimatort.

Bruder Francois zeigte mir 2012 den Bolzplatz im Arbeiterviertel von Ribérys Heimatstadt Boulogne-sur-Mer (Foto: SPORT BILD/ Philipe Ruiz) Bruder Francois zeigte mir 2012 den Bolzplatz im Arbeiterviertel von Ribérys Heimatstadt Boulogne-sur-Mer (Foto: SPORT BILD/ Philipe Ruiz)

Franck Ribéry stammt aus einem Viertel in Boulogne-sur-Mer, in dem zum Zeitpunkt meines Besuchs 2012 ganze 60 Prozent der Menschen arbeitslos sind. Seiner Familie kaufte Ribéry dort einst zwei Häuser und einen Wohnblock, in dem sein Cousin wohnen durfte. Aus dem ersten Haus, das Ribéry seinen Eltern am Meer aussuchte, zogen sie wieder aus. Sie fühlten sich isoliert, ihnen fehlte die Gemeinschaft im ärmlichen, aber vertrauten alten Viertel „Chemin vert“, dem „grünen Weg“. Daraufhin kaufte der Fußball-Star fünf Minuten entfernt vom Arbeiter-Viertel ein neues. So wie auch für die Familie seiner Frau Wahiba ganz in der Nähe.

 

Seine Verwandten fielen in dem Plattenbauten auf wie reiche Touristen aus Deutschland. Schwager Mohamed, Ribérys Brüder Malik und Francois trugen bei unserem Treffen allesamt Kleidung mit Dolce& Gabbana-Emblem. Sie fuhren einen Audi vom Bayern-Sponsor mit Münchner Kennzeichen. Sie zeigten mir den Ort, wo Franck das Fußballspielen lernte. Der Bolzplatz war 30 Meter lang, 15 Meter breit und aus Beton. Der Blick aus den vier Fenstern der alten Wohnung der Ribérys ging direkt auf den Ghetto-Platz. Die Bauten stammten aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg und sollten schon zum Zeitpunkt meines Besuchs abgerissen werden. Heute stehen sie wohl schon nicht mehr.

Links der einstige Wohnblock der Ribérys, rechts der Bolzplatz (Foto: SPORT BILD/ Philipe Ruiz) Links der einstige Wohnblock der Ribérys, rechts der Bolzplatz (Foto: SPORT BILD/ Philipe Ruiz)

Ich merkte schon damals schnell: Geliebt wird Ribéry in Frankreich nicht mal in seiner Heimatstadt. Als der Bürgermeister während der WM 2010 ein Plakat des Vize-Weltmeisters an einem Hochhaus im Hafen aufhängen ließ, hagelte es Proteste und Schmähungen. Als ich Ribéry für meine Reportage darauf ansprach, antwortete er: „Es wurden Lügen über mich verbreitet. Es wurde ein falsches Bild von mir kreiert, das die Leute in Frankreich beeinflusst und mir geschadet hat.“ Das war vor fünf Jahren. Heute ist das Verhältnis zwischen Ribéry und seiner Heimat noch schlimmer.

 

„Ich schulde euch nichts, meinen Erfolg verdanke ich vor allem Gott, mir und meinen Nächsten, die an mich geglaubt haben“, lautete die Antwort an seine Kritiker in seinem Post, der vor allem an seine Landsleute gerichtet war.

Seine Frau Wahiba, für die er im Alter von 15 zum Islam konvertierte, steckt wohl ebenfalls hinter den Posts, die Ribéry nun solchen Ärger bereiten. Die beiden haben zusammen jedoch schon Schlimmeres durchgemacht. Auch das schweißt sie zusammen. Oft berichtete mir Ribéry von den Anfängen ihrer Liebe. Lange hatten das Paar nicht einmal Geld zum Heiraten. Wahiba musste ein Haushaltsbuch führen, damit sie mit den Lebensmitteln von Francks geringem Lohn über die Runden kamen.

 

Ribéry dazu: „Wahiba stand auch in dieser Zeit hinter mir. Ich weiß jetzt: Weil wir das durchgestanden haben, kann uns ein Leben lang nichts mehr auseinander bringen.“

Für die Titelgeschichte Für die Titelgeschichte „Mein wildes Leben“ setzten wir Ribéry 2011 auf ein Motorrad (Foto: SPORT BILD/Hans-Jürgen Schmidt)

Irgendwann waren die Schulden so hoch, dass ihm die Bank kein Geld mehr gab. Die Geschichte dazu erzählte mir Franck im Juli 2007, als er mir nach seinem Wechsel zum FC Bayern sein erstes Interview in Deutschland gab. Als Übersetzer half sein Freund und Kollege Daniel van Buyten aus. Der belgische Verteidiger kam selbst aus dem Staunen nicht heraus, als Franck die Anekdote erzählte, wie er seine Karriere als 19-Jähriger an den Nagel hing, um an der Seite seines Vaters als Straßenarbeiter die vielen Schulden abzubauen. Als Franck nach fünf Monaten wieder genug Geld zusammen hatte sagte sein Vater ihm: „Jetzt musst du wieder Fußball spielen. Ich werde dir einen Verein suchen!“ Es war die große Wende in der Laufbahn von Franck Ribéry.

Im Juli 2007 zogen wir für unser Foto-Shooting Ribéry seine erste Lederhose an (Foto: SPORT BILD/Hans-Jürgen Schmidt) Im Juli 2007 zogen wir für unser Foto-Shooting Ribéry seine erste Lederhose an
(Foto: SPORT BILD/Hans-Jürgen Schmidt)

Ich erinnere mich noch, dass ich bei jenem Gespräch wohl einen Moment zulange auf seine Narbe starrte, denn Franck lächelte mich an und meinte daraufhin: „Na los! Frag schon!“ Ich brauchte erst einen Moment, um zu verstehen, während Ribéry längst erraten hatte, woran ich dachte: Über 15 Zentimeter zieht sich die Narbe über seine rechte Gesichtshälfte, über zehn Zentimeter über seine Stirn. Wie konnte ich ihn darauf ansprechen, ohne ihn zu kränken oder zu beleidigen? Er selbst gab mir nun dafür bereitwillig die Vorlage.

Bei einer Homestory präsentiert mir Ribéry seinen Champions-League-Pokal, den er sich für seinen Fitness-Keller nachbilden ließ Bei einer Homestory in Ribérys Villa in Grünwald präsentiert mir Franck seinen Champions-League-Pokal, den er sich für seinen Fitness-Keller nachbilden ließ (Foto: SPORT BILD/Philipe Ruiz)

 

Ribéry sprach ganz offen über den Autounfall, bei dem es ihn als Zweijährigen von der Rückbank durch die Windschutzscheibe schleuderte. Sein Vater fuhr mit ihm darauf ins Krankenhaus. Ribéry erinnert sich an die Schuldgefühle und Tränen des Papas, weil er dachte sein kleiner Sohn müsse sterben. Als Folge blieb die Narbe, die Francks Kindheit nicht leichter machte. Seine Mutter sei in Restaurants auf Gäste losgegangen, wenn diese vom Nebentisch ihren Sohn zu lange anstarrten, berichtete mir Franck. In der Schule verteidigte sich Ribéry selbst, wenn die Kinder ihn Frankenstein riefen: mit seinen Fäusten.

 

Ribéry musste ein Leben lang kämpfen. Er ist es gewohnt, sich mit harten Mitteln zu verteidigen. Sein Weg war ebenfalls hart und weit. Vor allem hat er ihn aber zu dem gemacht, der er heute ist. Im Guten wie im Schlechten.

 

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