01 Jan Chef Kahn und die Bayern-Gen-Erben
Termine an der Säbener Straße bedürfen in Zeiten von Corona einer völlig neuen Art der Vorbereitung. Spazierte ich für Termine ansonsten einfach in die Geschäftsstelle des FC Bayern und kündigte mich im Service-Center an, habe ich nun einen QR-Code auf dem Handy. Über eine Klub-Internetseite konnte ich mich vorab registrieren. Mit Login-Code für die „Kontakterfassung im Rahmen von SARS-CoV-2“. Im Anschluss wurde mein Termin wie folgt per Mail bestätigt.
Der FC Bayern München heißt Sie herzlich willkommen. Ihr/e Ansprechpartner/in beim FC BayernMünchen: | |
Vorname: Oliver | |
Nachname: Kahn |
Wir treffen Oliver Kahn zum großen Jahresrückblick. Der einstige Torhüter-Titan begrüßt meinen Kollegen Tobi und mich im zweiten Stock der Chefetage vorbildlich mit Ellenbogen-Gruß und Gesichtsmaske. Meine Aufmerksamkeit fällt sofort auf Olivers Platz am Tisch. „Ist das inszeniert oder was willst Du uns damit sagen“, frage ich Kahn. Der Bayern-Vorstand wirkt ehrlich überrascht, folgt daraufhin meinem Blick. Vor seinem Stuhl steht ein Teller auf den Tisch. Darauf liegt: eine geschälte Banane. „Das ist mein Mittagessen“, sagt Oliver mit unschuldiger Miene. Natürlich weiß er genau, worauf wir anspielen. Mit breitem Lachen fügt er an: „Ich habe aus meiner Spieler-Karriere noch so viele Bananen im Keller, die irgendwann ja mal gegessen werden müssen.“
Ich kenne Kahn schon seit rund 20 Jahren, habe noch auf den Reporter-Plätzen erlebt, wie ihm gegnerische Fans Bananen in den Strafraum warfen und dazu Affenlaute imitierten. Kahn zelebrierte damals schon seine mentale Stärke wie seinen Witz, in dem er die eine oder andere Südfrucht auf dem Platz verspeiste. Es ist schön zu sehen, dass er sich auch in seiner neuen Rolle als Vorstand bewahrt hat, über sich selbst lachen zu können.
In den eineinhalb Stunden, die wir für das SPORT BILD-Interview zusammensitzen werden, kommt das Thema auch auf die leeren Stadien, das Fehlen der Fans. Als Vorstand beschäftigen Kahn natürlich die enormen Umsatzverluste, die sich beim FC Bayern auf rund vier Millionen Euro pro Heimspiel beziffern. Aber es ist ihm anzumerken, dass er die ungewohnte Situation auch aus Spielersicht nachfühlen kann. Er selbst habe immer sehr viel Kraft aus den Emotionen der Fans gezogen, ob diese nun positiv oder – wie im Fall der Bananen-Werfer – negativ waren. Motivation ist ein ganz entscheidendes Thema in der Spielerkarriere von Kahn. Er lässt auch durchblicken, dass sein Abschied 2006 aus der Nationalmannschaft unter Bundestrainer Jürgen Klinsmann ihm zwei Jahre später sein Karriere-Ende als Profi bei Bayern leichter gemacht habe. Ansonsten hätte er vielleicht nicht so leicht losgelassen, länger gespielt. Wie soll es anders sein, reden wir im nächsten Moment über: Thomas Müller.
Kahn erlebte Jogi Löw noch als Bundestrainer-Assistent von Klinsmann. Ist es denn richtig, dass Löw auf einen Thomas Müller, der 2020 ein Schlüsselspieler beim Bayern-Triple war, in der Nationalmannschaft verzichten? Kahn überlegt kurz, um die Antwort für dieses sensible Thema richtig zu formulieren. „Thomas ist ein Phänomen“, beginnt Kahn sein indirektes Plädoyer für Müller, dessen Nominierung er Löw weder vorschreiben kann noch will. „Er wird nicht müde, und man kann seine Führungsrolle mehr denn je sehen, vor allem kann man sie bei diesen Corona-Spielen ohne Zuschauer hören“, argumentiert Kahn. „Von seiner Qualität her könnte Thomas jederzeit in der Nationalmannschaft spielen. Jogi Löw will das im Frühjahr neu bewerten.“
Kahns Respekt vor der Leistung von Müller schwingt in seinen Worten mit. Dessen Stellenwert für den Klub hatte mir Kahn bereits bei einem Gespräch im März 2019, als er noch kein Vorstand des FC Bayern war, so beschrieben. Müller habe die DNA des FC Bayern bereits in sich, die er sich selbst ab 1994 als Einkauf vom KSC Stück für Stück erst erlernen und verinnerlichen musste. „Mia san mia kannst du nicht einfach so auf dem Transfermarkt kaufen“, ließ mich Kahn bei dem damaligen in einem Grünwalder Café wissen. Bundestrainer Jogi Löw hat es im Fall Müller leichter. Er müsste den Bayern für die EM 2021 einfach nur nominieren.
Kahn macht keinen Hehl daraus, dass das DFB-Thema auch den FC Bayern nicht kalt lässt. Zufrieden Spieler sind enorm wichtig für den Rekordmeister. „Jogi Löw hat Entscheidungen getroffen, die für Spieler des FC Bayern schmerzhaft waren“, sagt er. Der Bundestrainer müsse sicher irgendwann den Umbruch schaffen, dieser Gedanke sei nachvollziehbar. Kahn findet es auch grundsätzlich richtig, zunächst jüngeren Spielern zu vertrauen. Aber ist es damit nicht nun gut genug? Der Europameister von 1996 rät, im kommenden Jahr vor der EM zu bilanzieren, wo man sportlich stehe. Kahn schließt mit der Feststellung: „Die Tür für eine Rückkehr ist nicht ganz zugeschlagen.“
Bevor Kahn die Tür für uns Reporter am Ende des Gesprächs öffnet, setzt er sich seine Gesichtsmaske auf. Darauf ist der Schriftzug zu lesen: „Fifa legends“. Kahn weiß, wovon er spricht, wenn es um Legenden im deutschen Fußball geht. Löw sollte die Worte des Titans in Sachen Müller vor der EM noch mal gewissenhaft durchdenken.
Anekdoten über Oliver Kahn und Thomas Müller findet Ihr auch in meinem Buch „Inside FC Bayern“