22 Jun „Darf ich die Kutte behalten?“
„Darf ich die Kutte behalten?“, fragte uns Uli Hoeneß. „Ich bezahle auch dafür.“ Natürlich durfte er nicht. Ein Fan, der eine Kutte besitzt, behält und trägt sie ein Leben lang. Wir hatten die Kutte von einem Bayern-Anhänger für das Foto-Shooting für SPORT BILD bei Hoeneß am Tegernsee im Februar 2013 ausgeliehen. Bei dem Interview sagte uns der damalige Präsident den schönen Satz: „Der Verein bleibt, die Spieler kommen und gehen.“ Inzwischen ist auch Uli Hoeneß gegangen, wenn auch nicht so ganz. Er ist ja trotz seines Rücktritts als Präsident noch immer im Aufsichtsrat des Klubs.
Jeder Sportreporter hat neutral zu sein. Doch um beruflich in den Fußball zu drängen, musst du zwangsläufig zuvor Fan gewesen sein. Daher zunächst ein Geständnis: Ja, auch ich hatte eine Kutte.
Die Kutte ist ein Relikt aus einer Fan-Epoche, wie man sie heute nur noch selten in den Stadien sieht. Wer sich aber zu meinen Jugendzeiten in der Südkurve des Münchner Olympiastadions, wo die Hardcore-Fans des FC Bayern stehen, zugehörig fühlen wollte, zog sie am Spieltag wie ein Sektengewand über. In den meisten Fällen, wie auch in meinem, war es eine Jeans-Jacke, deren Ärmel ich abgetrennt hatte. Meine Mutter war wenig begeistert, als ich dafür meine teure Levi-Strauss-Jacke (Größe 34) opferte. Anstelle der Ärmel nähte mir meine Tante rot-weiße-Franzen an. Über Monate hinweg besorgte ich mir von meinem Taschengeld die nötigen Aufnäher, die es damals an jeder Bude rundum das Olympiastadion zu kaufen gab. Damals gab es da auch noch Tickets zum Spiel zu kaufen, unmittelbar bevor es losging. Auf den Aufnähern war meist das Klub-Emblem, dazu Sprüche wie „We are red, we are white, we are Munich Dynamite“, „Uns zieht keiner die Lederhosen aus“ oder welche der bescheidenen Art: „Südkurve – Wir sind die Besten“ und „FC Bayern – Die Macht in Deutschland“. Beleidigende Sticker, wie „Was ist grün und stinkt nach Fisch – Werder Bremen“ erlaubte mir meine Mutter nicht. Das Herzstück der Jacke war auf dem Rücken das Bayern-Wappen mit gut 40-Zentimter-Durchmesser. Darunter stand in großen Lettern „Südkurve“.
Für mich ist es heute oft noch ein unwirkliches Gefühl, wenn ich den Helden meiner Kindheit aus meinem ersten Bayern-Kader inzwischen regelmäßig als Reporter begegne. Hans Dorfner, der sich bei meinem Stadion-Debüt in der Saison 1989/90 gegen Köln (5:1) in die Trefferliste eintragen durfte, versichert mir stets, dass ich eins seiner besten Spiele live erlebt habe. Den damaligen Torschützenkönig Roland Wohlfahrt kann ich heute auf seiner Privatnummer anrufen, was damals noch unvorstellbar war. Wiggerl Kögl lerne ich später als Berater von Thomas Müller kennen. Raimund Aumann ist Fan-Betreuer beim FC Bayern, Hans Pflügler arbeitete im Klub-Marketing. Mit Stefan Reuter als Manager des FC Augsburg gehören Gespräche und Interviews zu meinem Tagesgeschäft. Klaus Augenthaler traf ich für ein Gespräch zu seinem 60. Geburtstag. Den eingewechselten Manni Schwabl werde ich in seiner Funktion als Präsident von Unterhaching sowie als Trauzeuge wiederum von Hans Dorfner als bayrisches Original schätzen lernen. Ach ja: Roland Grahammer wurde Berater des Talents Schweinsteiger, was mich als Jungreporter noch sehr beschäftigen würde.
Der Erfolgsautor Nick Hornby hat in seinem wunderbaren Buch „Fever Pitch“ über seine Fan-Obsession für den FC Arsenal eine Lebensbeichte abgelegt. Der Vollblut-Gunner schreibt darin, dass er nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet habe, Sportjournalist zu werden. „Viel Geld dafür zu bekommen, über den Sport zu schreiben, den ich liebe, ist eine meine dunkelsten Ängste und lässt mich schaudern.“ Seine Angst begründet er darin, dass er als Reporter ein Spiel seines geliebten FC Arsenal verpassen könnte, weil er an jedem Tag eventuell in Anfield über Liverpool berichten müsse. Was für Hornby der FC Arsenal ist, war für mich seit Kindheitstagen der FC Bayern. Bei allein fünf Münchner Meisterschaften in meinen ersten zehn Lebensjahren dürfte das als gebürtiger Bayern unausweichlich gewesen sein. Der Engländer Hornby und ich unterscheiden uns jedoch in einem entscheidenden Punkt: Während der Arsenal-Fan seine Erfüllung im Freud und noch mehr Leid auf der Tribüne von Highbury fand, wollte ich meinen Helden viel, viel näher sein. Nicht getrennt durch Sitzschalen oder Zäune. Ich wollte ihre Handlungen auf und abseits des Rasens von Angesicht zu Angesicht mit ihnen bereden und vor allem hinterfragen.
Spieler kommen und gehen, der Vereine bleibt – so wie auch die Sportreporter.